Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde häufig das Ende der Malerei proklamiert, doch manche Künstler haben sich selbst in Zeiten radikalster Umwälzungen innerhalb der bildenden Kunst nicht beirren lassen und haben weiterhin ihre Bilder gemalt. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, beweisen die vielen und vielfältigen Ausstellungen in Museen, Galerien und Kunstmarktkojen, dass das gemalte Bild nichts an Aktualität verloren hat.

Dagmar Dost-Nolden ist Malerin aus einem inneren Drang und der Notwendigkeit heraus, das, was sie sieht, fühlt und bewegt in Farben und Formen auf die Leinwand zu bannen und sichtbar zu machen. Ihr künstlerischer Werdegang, der bereits um 1960 begann, führte sie in den 90er Jahren von einer anfangs figurativen, thematisch leicht verständlichen Kunst zu einer expressiven, beinahe geistigen Abstraktion.

Die Arbeiten der letzten 5 Jahre, die dieser Katalog in ausgewählten Beispielen zeigt, machen deutlich, in welchem Spannungsverhältnis die Künstlerin lebt und welche Gegensätze sie in ihr Werk einbringt: Bewusstes und Unbewusstes, Rationales und Irrationales, Spontaneität und überlegte Planung, konkrete und geistige Realität sowie Natur und Artefakte. Dabei spielen vor allem abstrakte Begriffe wie Energie, Dynamik, Impuls, Bewegung, Atmosphäre, Licht und Luft eine wichtige Rolle. Noch wichtiger sind der Künstlerin aber die Themen "Mensch" und "Natur" in ihrer ganzen Vielfalt und Ambivalenz.

Energien entladen sich in Farbzusammenballungen und Farbstrudeln und hie und da in kraftvollen Explosionen, die häufig aus einer Mitte kommen, ohne dass diese auch formal die Mitte der Komposition ausmacht. So entstehen Durchblicke und Öffnungen in die Tiefe der Leinwand, in das, was hinter dem Sichtbaren der Oberfläche zu liegen scheint.

Explosionen sind ungezügelte Bewegungen, die die Künstlerin durch kräftige Pinselstriche deutlich macht. Ein leuchtendes Rot, ein strahlendes Gelb, ein intensives Blau wirbeln über die Leinwand und senden in alle Richtungen Strahlen aus. Die Kraft und die Energie, die die Künstlerin in diese Kompositionen legt, springen dem Betrachter geradezu entgegen. Oft zucken auch schwarze Linien wie Blitze über die Bildoberfläche ("Energie" 1), betonen die Bewegung der Zweige und Blätter eines Baumes ("Baumsymphonie" und "Geheimnisse des Dickichts") oder heben die äußere und innere Bewegung eines Menschen hervor (Serie mit dem Titel "Ruf").

Dagmar Dost-Nolden beschäftigt sich aber vor allem  mit dem Thema "Mensch", er steht im Mittelpunkt ihres Interesses, denn er vereinigt in seinem Wesen alles, was sie sichtbar machen möchte: er bewegt sich, er verwandelt sich, er setzt Energien frei und handelt aus Emotionen und Stimmungen heraus. Oft ist das, was sie zeigen möchte, nicht auf den ersten Blick  erkennbar, denn ihre Bildmotive sind häufig schwer zu entziffern. Sie fordert vom Betrachter den zweiten Blick auf ihre Arbeiten und seine Phantasie zur eigenen Interpretation. Die menschliche Figur und das Umfeld, in dem sie steht, verschmelzen häufig miteinander und bilden eine Einheit in der Vielfalt. Ein gutes Beispiel dafür ist das energiegeladene "Diptychon", das bei längerer Betrachtung aus dem vielfältigen Farben- und Liniengewirr einen Mann und eine Frau hervortreten lässt, die sich antithetisch gegenüberstehen. Beide Figuren senden Energien aus, die in strahlenförmigen Linien auf das Gegenüber treffen. "Die äußere Form ist gar nicht so sehr wichtig, die Inhalte können auch in der abstrakten Malerei ausgedrückt werden", hat die Künstlerin einmal dazu geäußert. Dieses "Diptychon" beweist ihre Theorien, und zeigt  zugleich, wie sehr sie selbst in ein Zwiegespräch mit ihren Figuren eintritt.

Jedes Bild im Gesamtwerk der Künstlerin entsteht durch Inspiration während des Malprozesses, durch Gedanken und Gefühle und die jeweilige Stimmung, in der sie sich befindet. Diese unterschiedlichen  Kriterien steuern die Entwicklung eines Motivs. Vieles legt sie zwar vor Beginn ihrer Arbeit fest, doch das meiste manifestiert sich - oft zum eigenen Erstaunen der Künstlerin - in nicht geplanten Formen und Farben auf der Leinwand.

Die Farben sind die Basis ihrer Malerei, sie geben die Grundstimmung an, in der sich die Künstlerin bewegt. Und ihre Farben sind selten düster, grau, matt oder traurig. Ihre Farbpalette ist vielmehr hell, leuchtend und positiv.

Dagmar Dost-Nolden führt das auf ihre Herkunft zurück, auf die Sehweise, die sie in ihrer Geburtsstadt Prag erfahren hat. Prag ist eine Barockstadt, farbenprächtig und nuancenreich und zu jeder Jahreszeit lichtdurchflutet. Die Wahrnehmung dieses Phänomens hat sich in ihr Bewusstsein eingeprägt und bestimmt den Ausdruck ihrer Malerei.

Aber nicht nur die Farben, sondern auch die Oberflächenstrukturen unterliegen dem Einfluss und Erleben in ihren frühen Jahren in Prag. Der pompöse Barock- und der schmückende Jugendstil in der Architektur haben überall den Hang zur Dramatik, auch da, wo der Putz von den Wänden bröckelt und die Fassaden dem Verfall überlassen werden. Hinfällige Mauern zeigen deutlich die Schichten ihres Aufbaus, in denen sich das Licht besonders intensiv bricht.

Dieses Phänomen hat die Künstlerin aufgegriffen und auf die Leinwand übertragen, indem sie der Acryl- oder Ölfarbe Sand beimischt. So erzielt sie eine sehr haptische Oberfläche, in die sie, je nach Stärke des aufgetragenen Materials, Strukturen einkratzt. Durch diese Technik erreicht sie auf der Leinwand  jene intensive Lichtbrechung, die sie auf den verfallenen Mauern  beobachten konnte. In einigen Bildern hat sie zusätzlich Stoffstreifen verschiedener Stärke und  Breite in das Farb-Sand-Gemisch eingefügt, um diese Ausdruckmöglichkeiten noch zu erweitern und zu intensivieren.

Die Durchsichtigkeit des Lichtes erzielt sie durch eine spezielle Technik, bei der sie die Leinwand vor dem Farbauftrag  mit Kreide einschlemmt. Die Feuchtigkeit  dieser Grundierung saugt die Farben auf und verteilt die Pigmente unregelmäßig auf der Oberfläche, die nun leicht und transparent wie ein Aquarell erscheint. Auch diese Technik leitet Dagmar Dost-Nolden aus der Erfahrung mit der Architektur ihrer Heimatstadt ab.

Werden Farben, Formen und Linien zur Synthese gebracht, so gewinnt  die Komposition eines Bildes Ausgewogenheit, Harmonie und Tiefe und die Oberfläche gerät in Schwingung.

Der berühmte englische Maler David Hockney hat einmal gesagt :  ..“Maler wissen um die Oberfläche;  nur wenn man die Oberfläche kennt, kann man durch sie hindurchgehen",.. Das ist Dagmar Dost-Nolden in ihrer Kunst gelungen.

Dr. Gisela Hoßmann